Selbstversuch im Rollstuhl
Matyas Sagi-Kiss lebt seit 22 Jahren mit Rollstuhl. Er hat mich mitgenommen und mir die Stadt aus seiner Perspektive gezeigt. (Tages-Anzeiger, 11.03.2023)
Zürich ist eine andere Stadt, wenn man im Rollstuhl sitzt. Und das nicht unbedingt im Guten. Das merke ich bereits nach den ersten Metern. Das Trottoir an der Lagerstrasse hat eine kleine Neigung zur Strasse hin. Der Carbon-Rollstuhl, den Matyas Sagi-Kiss mir für diesen Nachmittag ausgeliehen hat, zieht bei jedem Anstossen zur Strasse hinunter. Sagi-Kiss ist Vizepräsident der Behindertenkonferenz Kanton Zürich und Präsident des Vereins hindernisfreies Wohnen Zürich. Der 39-Jährige lebt mit einer Zerebralparese und sitzt, seit er 17 Jahre alt ist, im Rollstuhl.
Am schlimmsten sind die Stufen. Noch nie ist mir aufgefallen, wie viele es in Zürich davon gibt. Sie sind überall. Vor praktisch jedem Geschäft, jedem Café hat es eine. Im Alltag übersteige ich sie, ohne es überhaupt zu bemerken. Sagi-Kiss dagegen kennt sie alle, er hat seine eigene Zürich-Karte im Kopf. Auf unserer Rundfahrt durch Zürich weiss er stets im Voraus, wo wir nicht durchkönnen und in welche Cafés wir nicht reinkommen. Die Stufen schliessen ihn von einem grossen Teil des sozialen Lebens aus. Sie markieren die leeren Stellen, die den grössten Teil seiner inneren Stadtkarte ausmachen.
Ins Büro durch den Spielzeugladen
«Ich verstehe wirklich nicht, wieso es vor einer Bar zwingend eine Stufe braucht beziehungsweise wieso man das nicht anpasst», sagt Sagi-Kiss. Es sei ihm bewusst, dass das Aufwand und Kosten verursache und «mühsam» sei. «Doch alle sagen immer, wie wichtig ihnen Inklusion sei. Dann müssen sie diesen Worten auch Taten folgen lassen».
Dies machte das Statthalteramt an der Löwenstrasse, in dem Sagi-Kiss seit 2018 als Bezirksrat arbeitet. Die Türstufe davor wurde abgeflacht – nach zwei Jahren Abklären und Bauen. Jetzt kann Sagi-Kiss auch am Wochenende in sein Büro. Vor dem Umbau war er auf die Öffnungszeiten des benachbarten Spielzeugladens angewiesen. Dieser ist rollstuhlgängig und hat einen eigenen Zugang zum Bürogebäude.
Die Situation steht sinnbildlich für so vieles, was Sagi-Kiss erlebt. «Ich kann grundsätzlich fast alles machen in dieser Stadt. Doch es ist immer mit wahnsinnig viel Planen und Organisieren verbunden.» Im Restaurant kurz aufs WC? Für die meisten selbstverständlich, für Sagi-Kiss oft nicht möglich.
180’000 Menschen mit Behinderung im Kanton Zürich
Beim Überqueren der Kreuzung vor dem Casino wird es kurz kritisch für mich. Die Mittelinsel ist zu schräg und ihr Randstein zu hoch. Eines meiner Räder dreht im Leeren, fast kippe ich nach hinten. Ich schummle kurz und stehe mit einem Fuss ab. Sagi-Kiss ist nicht überrascht: «Die Stelle ist der Rollstuhlhorror.»
Im Kanton Zürich leben geschätzt 180’000 Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung. Diejenigen, die aufgrund ihres Alters eingeschränkt sind, sind dabei noch nicht mitgezählt. Mehr als jeder zehnten Person ist es also «erschwert oder verunmöglicht, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen», sich fortzubewegen oder zu arbeiten, wie es im Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes heisst.
Offiziell hat sich die Gesellschaft dafür entschieden, die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung zu fördern und Hindernisse wo möglich abzubauen. Das verlangen verschiedene Gesetze, zuletzt auch das Selbstbestimmungsgesetz, welches im Februar 2022 einstimmig vom Kantonsparlament verabschiedet wurde und das 2024 in Kraft tritt. Neu sollen die betroffenen Personen finanzielle Unterstützung unabhängig davon erhalten, ob sie in einem Heim wohnen oder nicht. Sie können somit in Zukunft auch zu Hause wohnen, ohne damit auf Unterstützungsgelder verzichten zu müssen.
Knappes Wohnangebot
Sagi-Kiss macht dies mit viel Zusatzaufwand bereits heute. Gemeinsam mit seiner Assistenzhündin Ginger lebt er in einer 1½-Zimmer-Wohnung im Zollhaus. Diese hat er extra für sich anpassen lassen. So sind alle Schränke und auch das Kochfeld auf einer für ihn erreichbaren Höhe.
Das neue Gesetz betrachtet er als wichtigen Schritt in Richtung mehr Selbstbestimmung. Denn das Leben mit Behinderung ist teuer. Allein sein elektrischer Rollstuhl hat 30’000 Franken gekostet, und auch der Umbau der Wohnung war nicht günstig. Einen grossen Teil dieser Kosten übernimmt die IV, einen Teil bezahlt er selber.
Das Angebot an hindernisfreien Wohnungen ist klein, und die Mieten sind oft noch höher, als sie es in Zürich sowieso schon sind. Mit dem neuen Gesetz werde die Nachfrage nach solchen Wohnungen noch steigen, prophezeit Sagi-Kiss. «Wenn der Kanton hier nicht handelt, wird das Gesetz zum toten Buchstaben. Menschen mit Behinderung würden nicht in der eigenen Wohnung leben können, weil sie diese schlicht nicht bezahlen können.»
Hier spricht aus Sagi-Kiss nicht nur der Rollstuhlfahrer, sondern auch der SP-Politiker. Seit er 19 Jahre alt ist, ist er Mitglied. Zurzeit ist er in der Geschäftsleitung der Kantonalpartei.
«Ich will nicht immer dankbar sein müssen»
Unterdessen rollen wir sehr komfortabel ins Cobra-Tram an einer «stufenfreien» Haltestelle. Davor schauten wir zwei Trams ohne ebenerdigen Einstieg hinterher. Laut Bundesgesetz müssen per Januar 2024 auch Menschen mit Behinderung Bus und Tram «autonom und spontan» benutzen können. Dass Zürich noch nicht ganz an diesem Punkt angelangt ist, merke ich spätestens beim Paradeplatz. Zwischen Tür und Boden geht es gut 20 Zentimeter hinunter. Wir müssen eine Station weiterfahren, um auszusteigen.
Später beim Kaffee in der Le Raymond Bar frage ich Sagi-Kiss, ob jeder Aufwand gerechtfertigt sei, um die Stadt hindernisfrei zu machen – zum Beispiel auch ein teurer und aufwendiger Umbau des Paradeplatzes. Die Frage ärgert ihn. «Natürlich ist es irgendwann nicht mehr verhältnismässig, doch an diesem Punkt sind wir noch lange nicht.» Heute sei es häufig so, dass sogar «die Freude an den angeblich ach so schönen Pflastersteinen» höher gewichtet werde, als dass Menschen mit Behinderung sich fortbewegen könnten.
Sagi-Kiss wünscht sich, dass die Gesellschaft in Zukunft von sich aus an Menschen wie ihn denkt. «Ich will nicht dafür dankbar sein müssen, dass die Behindertentoilette nicht als Abstellkammer missbraucht wird.» Auch in seinem persönlichen, «bereits sehr sensibilisierten» Umfeld geht Sagi-Kiss manchmal «vergessen». So finden manche Feste in Lokalen statt, die mit dem Rollstuhl nicht zugänglich sind. Er versuche dann auf der individuellen Ebene mit aller Kraft Verständnis aufzubringen, schliesslich wolle er den Leuten nicht die Laune verderben. «Das fällt mir aber immer schwerer.»
Damit sich das ändert, müssten Menschen mit Behinderung im Alltag sichtbarer werden. Das können sie jedoch nur, wenn ihnen das auch möglich ist. Sagi-Kiss sagt, er höre immer wieder von Ladenbesitzern mit Türschwelle, dass zu ihnen sowieso nie Leute im Rollstuhl kämen. «Ja warum wohl?»
Wahl knapp verpasst
Ein wichtiges Instrument für mehr Sichtbarkeit ist für Sagi-Kiss die integrative Förderung in der Schule. Diese steht in letzter Zeit aber immer wieder von allen Seiten in der Kritik. Der SP-Politiker hofft, dass diese dennoch erhalten bleibt. «Wer mit jemandem im ‹Rolli› in der Klasse aufwächst, ist später sensibilisierter.»
Eine andere Art von Sichtbarkeit blieb Sagi-Kiss gerade erst verwehrt. Er kandidierte im städtischen Wahlkreis 3+9 für den Kantonsrat und verpasste die Wahl um 169 Stimmen. «Jetzt wird im nächsten Kantonsrat schon wieder niemand mit Behinderung sitzen», sagt er. Dabei sei es wichtig, dass die Betroffenen nicht nur angehört würden, sondern auch selber an den entscheidenden Stellen sässen. Sonst gingen entscheidende Details schnell vergessen. Wie zum Beispiel auch in Sagi-Kiss’ Zuhause im Zollhaus.
Die Genossenschaft Kalkbreite legte beim Bau grossen Wert auf Hindernisfreiheit. So ist zum Beispiel der Lift gross genug, dass ein Rollstuhl bequem Platz hat. Auch einen Spiegel hat er. «Fürs Rückwärts-Rausfahren ist das wichtig», sagt Sagi-Kiss. Was beim Bau jedoch nicht bedacht wurde: Dieser Spiegel sollte nicht bis ganz unten gehen. Denn mit dem Rollstuhl fährt man schnell in diesen rein. «Wer im Rollstuhl sitzt, weiss das. Diese Perspektive hat hier bei der Planung gefehlt.» Der Spiegel wurde nun gegen eine spiegelnde Folie ausgetauscht.
Nach einer Runde mit Hündin Ginger durch die Allmend stehe ich wieder vom Rollstuhl auf, verabschiede mich und schwinge mich aufs Fahrrad. Es ist erleichternd, nicht mehr nach jeder Stufe Ausschau halten zu müssen. Mir wird bewusst, wie wenig Gedanken ich mir bisher über Barrierefreiheit gemacht habe, wie einseitig meine innere Zürich-Karte ist. Am nächsten Morgen wache ich mit Muskelkater in den Armen auf.
Sagi-Kiss kann den Rollstuhl nicht einfach verlassen. Und er hat mit dem Rollstuhl ganz andere Probleme als Muskelkater.