Prügelattacke in Schaffhausen
In der Wohnung eines stadtbekannten Schaffhauser Juristen wurde eine Frau brutal zusammengeschlagen. Nun muss der Mann um sein Anwaltspatent bangen. (Tages-Anzeiger, 05.06.2024)
Der Anwalt betritt den Saal, winkt dem tagenden Gericht zu und torkelt zu den Zuschauern. Er begrüsst sie mit einem Handklatsch. Auf dem Stuhl, der ihm angeboten wird, kann er sich nur schwankend halten.
Es ist nicht das Bild, das die Gesellschaft vom idealen Anwalt hat. Und es ist auch nicht unbedingt das, was die Aufsichtsbehörde über das Anwaltswesen des Kantons Schaffhausen sehen will. Doch genau diese Szene aus dem Frühling 2022 schildert ein Bericht zuhanden der Behörde über einen Anwalt und dessen «Umgang mit Alkohol oder anderen Suchtmitteln».
Der Anwalt ist auch heute noch im offiziellen Anwaltsverzeichnis von Schaffhausen aufgeführt. Er darf somit vor Gericht arbeiten. Aus Persönlichkeitsschutzgründen nennen wir seinen Namen nicht.
Doch von seiner Existenz weiss mittlerweile das ganze Land. Denn in seiner Wohnung wurde Fabienne W. Ende 2021 von mehreren Männern schwer verprügelt. Vor kurzem berichtete die SRF-«Rundschau» über den Fall.
«Hau ihr eins in die Fresse!»
Überwachungskameras zeichneten das Geschehen auf. Am Ende einer durchzechten Nacht wurde Fabienne W. geschlagen, gewürgt und auf den Boden geschmettert. Die Aufnahmen zeigen, wie der Anwalt dem mutmasslichen Haupttäter zuruft: «Hau ihr eins in die Fresse! Sie hat meinen Fernseher kaputtgemacht.»
Die Empörung nach dem «Rundschau»-Bericht war gross. Insbesondere wurden Staatsanwaltschaft und Polizei dafür kritisiert, den Fall nicht seriös genug zu untersuchen und zu wenig gegen die mutmasslichen Täter zu unternehmen. Die Behörden weisen die Vorwürfe zurück. Der Regierungsrat hat eine externe Untersuchung angekündigt.
In die Kritik geriet jedoch auch die «Rundschau» selbst. In ihrem Bericht legte sie nahe, dass der Anwalt Fabienne W. zu sich nach Hause eingeladen hatte, um sie von einer Anzeige gegen einen seiner Freunde abzubringen. Dieser soll die Frau wenige Tage zuvor vergewaltigt haben. In diesem Zusammenhang sei es dann auch zur Gewalt gekommen.
Andere Medienberichte – zum Beispiel in der «Schaffhauser AZ» – stellten dieses Narrativ jedoch infrage. Die Zeitung veröffentlichte ein ausführliches Protokoll der Tatnacht. Dieses zeichnet das Bild eines Abends, der fröhlich und entspannt entstand, sich hochschaukelte und dann unter Einfluss von Alkohol und Drogen in der Gewalt gegen die Frau eskalierte.
Anwalt fiel den Behörden negativ auf
Der Anwalt war bereits vor der TV-Sendung stadtbekannt. Als Teenager gründete er seine erste Webdesign-Agentur. Mit Freunden baute er ein Computerfachgeschäft auf, das zwischenzeitlich zu den grössten Elektrohändlern der Schweiz gehörte. Zusätzlich verdiente er Geld mit dem Verkauf von Druckerpatronen.
In den darauffolgenden Jahren soll er sich jedoch von vielen seiner Freunde entfernt haben. Er war häufig in Bars und an Events unterwegs und dokumentierte das ausführlich in den sozialen Medien. Hunderte Fotos zeigen ihn mit zahlreichen Menschen, häufig im Ausgang. Darunter sind auch Polizisten, der Stadtpräsident und DJ Bobo. Mehrere Personen sagten dieser Redaktion, der Anwalt habe teils auch Menschen zu gemeinsamen Fotos geradezu gedrängt, die ihm nicht nahegestanden hätten.
Anwalt erschien betrunken vor Gericht
Bekannt war er auch bei den Behörden. Das zeigt ein Dokument zuhanden der Aufsichtsbehörde, das dieser Redaktion vorliegt und über das Radio Munot zuerst berichtete. Der Bericht listet mehrere Fälle auf, in denen der Anwalt den Behörden negativ aufgefallen war.
So musste die Polizei in mehreren Nächten wegen Ruhestörung zur Wohnung des Anwalts ausrücken. Den Beamten sagte dieser einmal, er kenne viele Polizisten persönlich. Seinetwegen habe auch schon ein Polizist das Korps verlassen müssen. Nach einer anderen Beschwerde aus der Nachbarschaft trat der Anwalt den Polizisten nackt entgegen.
Zudem sei der Anwalt in seiner Funktion wiederholt betrunken bei den Behörden erschienen und habe dabei deren Arbeit gestört, unter anderem durch «deplatziertes» Lachen während einer Einvernahme. Auch die Nacht der Prügelattacke ist aufgeführt.
Zusammenfassend hält der Bericht fest, dass es «fraglich» sei, ob der Anwalt aufgrund seines Verhaltens «die Vertrauenswürdigkeit aufweist, die ihm vom Rechtsstaat sowie von den rechtssuchenden Personen in seiner Funktion als Rechtsanwalt entgegengebracht wird».
«Koordination mit anderen Verfahren» kann Untersuchung verzögern
Anwältinnen und Anwälte brauchen ein Patent, um praktizieren zu können. Dieses können sie bei Fehlverhalten verlieren – im Zuge eines Disziplinarverfahrens. Das Dokument legt nahe, dass der Anwalt sich bereits im Frühjahr 2022 mit einem solchen Verfahren konfrontiert sah.
Trotzdem darf er zwei Jahre später immer noch praktizieren. Warum? Die Aufsichtsbehörde über das Anwaltswesen in Schaffhausen schreibt, man gebe aufgrund des Amtsgeheimnisses keine Auskunft zu einzelnen Verfahren. Die Dauer eines Disziplinarverfahrens hänge jedoch jeweils vom Umfang und von der Komplexität der Vorwürfe ab. Auch eine «Koordination mit anderen Verfahren» könne eine Untersuchung in die Länge ziehen.
Es kann also sein, dass gegen den Anwalt noch ein strafrechtliches Verfahren wegen dessen Beteiligung an der Prügelattacke läuft – und die Aufsichtsbehörde dieses Urteil abwarten will, bevor sie handelt. Das dieser Redaktion vorliegende Dokument legt nahe, dass Akten zu einer Strafuntersuchung gegen den Anwalt «betreffend Anstiftung zur einfachen Körperverletzung» beigezogen wurden.
Der Anwalt selbst will keine Stellung nehmen.
«Keine Samthandschuhe für Anwälte»
«Grundsätzlich fassen die Aufsichtsbehörden fehlbare Anwälte nicht mit Samthandschuhen an», sagt Walter Fellmann. Er ist emeritierter Rechtsprofessor und Experte für Anwaltsrecht. Seiner Erfahrung nach würden Disziplinarverfahren in der Regel schnell eröffnet und dabei auch kantonsübergreifend zusammengearbeitet. Überdies hätten die Behörden bei Berufspflichtverletzungen eine Meldepflicht.
Das Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte setzt gewisse Bedingungen für die Eintragung in ein kantonales Anwaltsregister voraus. So dürfen keine Verlustscheine vorliegen und auch keine «strafrechtliche Verurteilung wegen Handlungen, die mit dem Anwaltsberuf nicht zu vereinbaren sind». Dazu zählen Delikte wie Mord oder Körperverletzung, aber auch Urkundenfälschung oder Vermögensdelikte.
Alkoholprobleme können zu Verlust des Patents führen
Viele Kantone können auch gegen Anwälte vorgehen, ohne dass diese verurteilt wurden. Der Kanton Schaffhausen entzieht zum Beispiel das Anwaltspatent, wenn jemand «nicht mehr handlungsfähig oder vertrauenswürdig ist» und ein Verweis oder eine Busse nichts nützen. Das kann laut Walter Fellmann etwa bei einem schweren Alkoholproblem der Fall sein.
Während einer Disziplinaruntersuchung können die Behörden und ein betroffener Anwalt ausserdem Abmachungen treffen. Hält er diese ein, kann sich das positiv auf das Verfahren auswirken.
Ob es eine Abmachung zwischen den Schaffhauser Behörden und dem Anwalt gab, ist offen. Mehrere Personen sagten dieser Redaktion, dass er sich seit einigen Monaten besser im Griff habe, dass man ihn kaum noch in den einschlägigen Bars sehe. Auch das exzessive Posten in den sozialen Medien hat aufgehört. Auf den letzten Einträgen sieht man ihn nur noch Cola trinken. Jetzt, wo das Land über ihn spricht, ist der Mann still geworden, der sein Privatleben zuvor so öffentlich zelebrierte.