«Der IS profitiert von den Rechtsextremen in Europa»

Interview zu Terrorismus

Der Islamische Staat ist wieder vermehrt aktiv in Europa. Dabei gehe es in erster Linie um Geld, sagt ein IS-Experte. (Tages-Anzeiger, 03.10.2024)

Vor wenigen Wochen stach in Solingen ein Attentäter mehrere Menschen nieder. In den Monaten davor wurden mehrere mutmassliche Terroristen verhaftet: Sie hatten Angriffe auf die Fussball-EM, die Olympischen Spiele und ein Taylor-Swift-Konzert geplant. Sie sollen vom Islamischen Staat (IS) geschickt worden sein.

Antonio Giustozzi ist IS- und Afghanistan-Experte und forscht am Royal United Services Institute in London. Er hat mehrere Bücher zum Thema verfasst und unter anderem die Nato und verschiedene EU-Staaten beraten. Sein Team hat zahlreiche Interviews mit Mitgliedern des IS und der Taliban geführt, wodurch er seltene Einblicke in die Denkweise der Extremisten erhalten hat.

Herr Giustozzi, wie stark ist der IS in Europa?

Die aktuellen Attentate sind kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche. Der IS muss auf Einzeltäter wie in Solingen zurückgreifen, die schlecht ausgebildet mit Küchenmessern Menschen angreifen. Es gelingt ihm offensichtlich nicht, ausgebildete Kämpfer nach Europa zu schleusen und hier Waffen zu beschaffen. Stattdessen setzt er auf sogenannte einsame Wölfe und lose organisierte Sympathisanten und hofft, dass irgendwann einer von ihnen erfolgreich ist.

Was verspricht sich der IS von solchen Anschlägen?

In erster Linie Aufmerksamkeit. Der IS braucht unbedingt Geld. Mit dem Untergang des Kalifats verlor er viele seiner Einnahmequellen, zum Beispiel aus dem Schmuggel. Auch viele reiche Spender aus den Golfländern sprangen ab. Niemand möchte Geld spenden an einen Verlierer. Der IS muss es deshalb wieder in die Schlagzeilen schaffen.

Die Anschläge sind in erster Linie eine Spendenkampagne?

Das könnte man so sagen. Der IS möchte nicht mehr von einzelnen Grossspendern abhängig sein, das ist riskant. Doch um von Kleinspendern leben zu können, müssen diese einerseits einfach Geld schicken können, vom Handy aus via Kryptowährungen. Andererseits müssen die Spender konstant daran erinnert werden, dass es den IS gibt und dass sie ihn unterstützen können. Dafür sind die Terroristen auf Bildmaterial angewiesen. Als sie vor ein paar Monaten drei spanische Touristen und ihren Führer in Afghanistan töteten, gab es davon keine Videos und deshalb auch kaum Reaktionen. Der IS sagt heute öffentlich, dass er keinen Nutzen sieht in solchen Angriffen auf Zivilisten, weil sie keine Reaktionen hervorrufen. Auch Solingen war aus dieser Perspektive für den IS kein grosser Erfolg.

Wofür braucht der IS das Geld?

Auch wenn der IS geschrumpft ist, unterhält er immer noch eine grosse und komplexe Organisation rund um die Welt. Das sind viele Menschen, die bezahlt und versorgt werden müssen. Im vergangenen Jahr gab es Zeiten, in denen die Kämpfer in Afghanistan von ihren Verwandten aus den Dörfern in den Bergen mit Essen versorgt werden mussten, weil der IS nicht mehr liefern konnte. Zurzeit müssen die Terroristen kurzfristig denken.

Und was wollen sie langfristig?

Sie wollen immer noch dasselbe wie früher. Sie wollen einen Bürgerkrieg zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Europa auslösen. Paradoxerweise sind sie jetzt näher dran als damals, als sie aktiv daran arbeiteten.

Wie meinen Sie das?

Der IS profitiert davon, dass es immer mehr rechtsextreme Gruppen gibt in Europa. Diese sind zwar meistens noch nicht terroristisch, aber sie sind nahe dran. Viele rechtsextreme Europäer kämpften auf beiden Seiten im Ukraine-Krieg und haben dort schiessen gelernt und vermutlich auch, wie man mit Sprengstoff umgeht. Und wegen des Krieges gelangen auch immer mehr Waffen auf den Schwarzmarkt. Das macht es für den IS in Zukunft einfacher, in Europa eine Eskalation zu provozieren. Wie wenig es braucht, haben wir zum Beispiel vor einigen Wochen in England gesehen. Nach einer Messerattacke auf Kinder und falschen Gerüchten kam es zu tagelangen Ausschreitungen. Glücklicherweise ist der IS derzeit nicht in der Lage, solche Situationen auszunutzen, aber er wird es zweifellos versuchen.

Der IS war ja vor allem dafür bekannt, in Syrien und im Irak ein Kalifat errichtet zu haben. Ist das heute kein Thema mehr?

Die Gruppe ist heute weit davon entfernt, ein grösseres zusammenhängendes Gebiet kontrollieren zu können. Das Einzige, was ihm derzeit bleibt, ist der Terrorismus.

Sie sprachen vorher Afghanistan an. Zu den letzten Attentaten bekannte sich häufig der IS Provinz Khorasan (ISPK), der dort sein Zentrum hat und den historischen Namen des Gebiets trägt. Was hat es mit diesem auf sich?

Dass der ISPK derzeit so präsent ist, hat vor allem damit zu tun, dass der IS an anderen Orten schwach ist. In Syrien zum Beispiel hat die Gruppe nur noch wenige Kader und die braucht sie, um die Anführer zu schützen. Hingegen hat der IS nach wie vor viele Kämpfer aus Zentralasien in seinen Reihen. In Syrien hat er für diese Leute wenig Verwendung, sie fallen nur auf. Sie werden deshalb ermutigt, nach Europa zu gehen. Der Ableger in Khorasan erhielt den Auftrag, sie zu betreuen, da es in Afghanistan viele Zentralasiaten gibt. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten im Land selbst für den IS zurzeit gering.

Wie stark ist der ISPK derzeit?

Schätzungsweise verfügt er über insgesamt 6500 Mitglieder, davon 4000 Kämpfer. Abgesehen von ein paar kleinen, abgelegenen Dörfern kontrolliert er jedoch kein Gebiet.

In Afghanistan regieren die islamistischen Taliban. Mit dem IS befinden sie sich jedoch im Krieg. Wieso?

Ursprünglich unterstützten manche Taliban-Gruppen den IS bei ihrem Kampf in Syrien und im Irak mit Freiwilligen. Doch spätestens als dieser entschied, das Kalifat nach Afghanistan auszudehnen, kam es zu Konflikten. Der IS machte den Taliban sowohl Kämpfer als auch Gebiete streitig. Nach der Machtübernahme durch die Taliban attackierte der IS diese und führte Attentate durch. Mittlerweile haben die Taliban den IS jedoch stark zurückgedrängt.

Vom Regieren gelangweilte Taliban sollen zum IS überlaufen: Stimmt das?

Das kommt tatsächlich vor, auch wenn Langeweile kaum der Grund sein dürfte. Es gibt unter den Taliban viele, die enttäuscht sind vom neuen Regime. Ihnen wurden Beförderungen und wichtige Posten versprochen. Doch nur weil man im Krieg zehn Leute kommandiert hat, wird man noch nicht Chef der Polizei. Auch gewisse ethnische Minderheiten fühlen sich innerhalb der Taliban diskriminiert und versprechen sich deshalb beim IS bessere Chancen.

Der IS hat seine Kampagne gegen die Taliban zuletzt etwas zurückgefahren. Wieso?

Einerseits fehlen dem IS die Ressourcen. Andererseits hat er auch wenig zu gewinnen. Reiche Spender aus dem Golf wollen keinen Jihad gegen die Taliban finanzieren. Diese sind weder Schiiten noch Westler. Sie sagen ihnen, sie sollten lieber den Palästinensern helfen oder unterdrückten Muslimen an anderen Orten.

Kann der IS besiegt werden?

Ich denke schon, letztes Jahr wurde der IS beinahe zerschlagen. Die Länder im Kampf gegen den IS müssten konsequent Geldflüsse stoppen und zusammenarbeiten. Der IS nutzt Rivalitäten aus. Vertreter des IS haben uns einmal gesagt, dass die schwierigste Zeit für sie gewesen sei, als die Amerikaner, die Russen und die Iraner im Irak und in Syrien gleichzeitig gegen sie vorgegangen seien. Die USA hatten die elektronische Aufklärung, die Russen bombardierten die Islamisten skrupellos, und der Iran war bereit, Kämpfer vor Ort einzusetzen. Wenn die internationale Gemeinschaft zusammenarbeitet, kann der IS besiegt werden.

In