«Ich gönne es den Leuten auf der Reichsten-Liste»

Armutsbetroffener über Reichtum

Jedes Jahr veröffentlicht die «Bilanz» eine Liste mit den 300 Reichsten der Schweiz. Was macht das mit jemandem, der am Existenzminimum lebt? (Tages-Anzeiger, 29.11.2024)

Nicolas Gabriel verkauft seit über 20 Jahren das Strassenmagazin «Surprise», fast ebenso lange war er obdachlos. Neidisch auf die Reichen ist er nicht.

Text, Fotos, Videos und Grafiken: Jan Bolliger

Das Heft in Nicolas Gabriels Händen glänzt schwarz-goldig und ist deutlich schwerer, als er erwartet hat. Es erzählt von 833’500’000’000 Franken, welche die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer zusammen besitzen.

Die Redaktion des Wirtschaftsmagazins «Bilanz» hat auch in diesem Jahr fein säuberlich aufgelistet, wer dank eines guten Geschäftsjahrs ein paar Milliarden mehr auf dem Konto hat und wer in der Rangliste abgestiegen ist.

Der 60-Jährige Gabriel kennt sich aus mit Drucksachen. Seit über 20 Jahren trägt Gabriel Zeitungen in der Stadt Zürich aus und verkauft das Strassenmagazin «Surprise». Sein erster Eindruck vom Heft:

Gabriel war jahrelang obdachlos. Vom Reichtum war er so weit entfernt, wie es nur die wenigsten Menschen in der Schweiz je sein werden. Interessiert blättert er durch die Seiten mit Unternehmerinnen, Erben und Managern. «Ich gönne es den Leuten auf der Liste. Sie haben viel gearbeitet und sicher auch auf einiges verzichtet, sonst wären sie nicht so reich.»

Neidisch macht die Liste Gabriel nicht. «Wir sollten uns nicht mit anderen vergleichen. Das zieht einen nur runter.» Das Heft sieht er als Gelegenheit, interessante Menschen näher kennen zu lernen und sich vielleicht auch von ihnen inspirieren zu lassen.

Landesweit über 700’000 Armutsbetroffene

Um es auf die Liste zu schaffen, muss man mindestens 100 Millionen Franken besitzen. Gabriel würde nicht so viel Geld haben wollen: «Ich würde mich die ganze Zeit fragen, wem ich mit meinem Geld am besten helfen sollte.» Er selbst komme gut mit 2000 Franken im Monat zurecht.

Wer in der Schweiz als Einzelperson weniger als 2’284 Franken im Monat zur Verfügung hat, gilt als armutsbetroffen. Im Jahr 2022 waren das gemäss dem Bundesamt für Statistik 702’000 Menschen, neuere Daten gibt es noch nicht.

Würde man ein Heft über sie machen, dann würden darin besonders viele alleinerziehende Mütter, Kinder, Jugendliche, Senioren und Menschen mit wenig Ausbildung und Migrationshintergrund vorkommen. Sie sind verhältnismässig oft von Armut betroffen.

Eine Liste mit 300 typischen Armen in der Schweiz würde sich so zusammensetzen:

Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, haben Anspruch auf Sozialhilfe. «Ein Teil der Armutsbetroffenen bezieht diese jedoch nicht», sagt Mirjam Ballmer, die Vizepräsidentin der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). So hätten in vielen Städten im letzten Jahr gleichzeitig die Anzahl der Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger abgenommen und die nicht staatlichen Hilfsorganisationen mehr Zulauf erhalten. «Das ist kein gutes Zeichen», sagt Ballmer.

Die Gründe, weshalb Betroffene nicht zum Sozialamt gingen, seien vielfältig: Unwissen, zu hohe administrative Hürden, Angst vor dem Verlust der Aufenthaltsbewilligung oder psychische Probleme.

Auch der Zeitungsverkäufer Nicolas Gabriel wollte lange nichts von der Sozialhilfe wissen: «Ich wollte nicht um Unterstützung betteln.» Erst als Mitarbeiter der Stadt während seiner Obdachlosigkeit aktiv auf ihn zugegangen seien, habe er diese angenommen. «Ich bin ihnen wirklich sehr dankbar dafür.»

Auf die Trennung folgte die Obdachlosigkeit

Dass es bei Gabriel überhaupt so weit kam, lag an psychischen und familiären Schwierigkeiten. Beides sind häufige Gründe dafür, dass jemand in die Armut abrutscht, wie Mirjam Ballmer von der Skos sagt.

Gabriel kommt aus einem gutbürgerlichen Haushalt und hatte Jura studiert. Doch aufgrund einer psychischen Krankheit kam ein Beruf in der Justiz für ihn nicht infrage. Stattdessen arbeitete er als Betreuer in einem Heim für Menschen mit Behinderung. Später heiratete er und zog für seine Frau nach Biel. Die Beziehung verlief gut, hielt aber nicht. Hals über Kopf kehrte er allein zurück nach Zürich, ohne Job und ohne Unterkunft.

«Obdachlosigkeit braucht Mut», sagt Gabriel. Er ist ein spiritueller Mensch und überzeugt, dass, wer sich auf ein schweres Schicksal einlässt, irgendwann belohnt wird. «Das kann in diesem Leben oder in einem nächsten sein.»

Aus diesem Grund gönnt er auch den vielen Erben auf der «Bilanz»-Liste ihren Reichtum. «Sie hatten es in einem früheren Leben wohl sehr schwer.»

«Kleine Schritte» gegen die Armut

Um die Armut in der Schweiz zu bekämpfen, wünscht sich Gabriel, dass es weniger Einschränkungen und Verbote gibt. Einen etwas anderen Ansatz würde Oliver Hümbelin wählen. Er ist Professor an der Fachhochschule Bern und verantwortet dort den Bereich Armut und Existenzsicherung.

«Der politisch realistischste Weg sind viele kleine Schritte», sagt der Sozialwissenschafter. So setzt er sich zum Beispiel für schweizweite Familien­ergänzungsleistungen ein. Zahlreiche Studien würden zeigen, dass von Armut betroffene Kinder auch als Erwachsene eher armutsgefährdet seien. «Man muss versuchen, die Armutsspirale möglichst frühzeitig zu unterbrechen.»

Gespannt ist Hümbelin auch auf die Umsetzung der Initiative zur 13. AHV-Rente. Für Rentnerinnen und Rentner mit wenig Geld stellt diese eine wichtige Unterstützung dar. «Sollte der Bund die zusätzliche Rente jedoch über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanzieren, wäre das für Haushalte mit tiefen Einkommen spürbar.» Dazu rechnet er auch mit weiter steigenden Mieten und Gesundheitskosten.

Ein zusätzlicher Job verspricht Aufstieg

Die höhere Krankenkassenprämie bekam im vergangenen Jahr auch Nicolas Gabriel zu spüren. Dazu kam die Sorge, weniger Aufträge als Zeitungsausträger zu erhalten, weil die Auflagen der Zeitungen gesunken sind.

Doch hätte Gabriel einen Eintrag im «Bilanz»-Magazin, er wäre in der Kategorie der Aufsteiger: Seit anderthalb Jahren hat er ein eigenes Zimmer und vor wenigen Monaten hat er begonnen, für das Strassenmagazin Stadtführungen anzubieten. Dank dem Zusatzverdienst wird er im kommenden Jahr voraussichtlich nicht mehr auf die Sozialhilfe angewiesen sein. Und so geht es ihm damit:

In