Renovate und Klimastreik
Der Klimastreik vom Freitag ist der letzte, Renovate Switzerland macht Schluss mit Kleben. Im Gespräch erklären zwei Exponenten, wie sie die Menschen hinter sich bringen wollen – und es zeigen sich Risse. (Tages-Anzeiger, 15.09.2023)
Die Klimaproteste sind in den vergangenen Jahren noch schneller geschrumpft als die Gletscher. Am mangelnden Engagement von Cyrill Hermann und Marie Seidel liegt das nicht. Hermann organisierte die Klimastreiks mit, Seidel klebte sich für Renovate Switzerland in Altstetten während des Morgenverkehrs auf die Strasse. Die beiden gehören den Gruppierungen an, die das öffentliche Bild der Klimabewegung in der Schweiz am stärksten prägen.
Doch dieses Bild soll sich in nächster Zeit ziemlich ändern, zumindest in Zürich. Denn nach dem weltweiten Klimastreik diesen Freitag soll vorerst Schluss sein mit den grossen Demonstrationen. Und auch Renovate will sich aktuell nicht mehr auf die Strassen kleben, sondern langsam laufen.
«Ich halte grosse Demonstrationen zurzeit nicht für zielführend», sagt Cyrill Hermann vom Zürcher Klimastreik. Er hat Augenringe, als er zum Gespräch in der Zentralwäscherei erscheint, und auch sein stark koffeinhaltiges Mate-Getränk kann die fehlenden Stunden Schlaf nicht kompensieren. Es laufen die letzten Vorbereitungen zum globalen Klimastreik am Freitag, Hermann hat praktisch täglich Sitzungen und Mediengespräche. Daneben geht er noch ans Gymnasium.
Ein Klima-Aktionsplan für Zürich
Der Klimastreik Zürich hat in den vergangenen Monaten seine Strategie überarbeitet. Das Resultat ist ein vorläufiges Ende der grossen Demonstrationen und ein «Klima-Aktionsplan» mit 21 konkreten Forderungen an den Kanton Zürich. Auf nationaler Ebene existiert ein solcher Plan bereits länger, doch zum ersten Mal wurde dieser auf kantonale Ebene heruntergebrochen. Statt einfach einen «System change» fordern die Aktivistinnen und Aktivisten nun zum Beispiel ein Verbot für kommerzielle Werbung im öffentlichen Raum, Solaranlagen auf der Hälfte der «sinnvoll nutzbaren» Dach- und Fassadenflächen oder ein öffentliches Programm für «garantierte klimagerechte Arbeitsplätze».
«Die Leute sollen sich dort effektiv einbringen, wo ihre persönlichen Interessen und Stärken sind», sagt Hermann. Der Klimastreik an diesem Freitag und die nationale Klimademo Ende September seien deshalb die letzten grossen Demonstrationen, die sie organisieren würden.
Wie die verschiedenen Forderungen ohne solche Demos erreicht werden sollen, kann er jedoch noch nicht sagen. «Das müssen die verschiedenen Gruppen dann von Fall zu Fall anschauen.» Denkbar seien aber zum Beispiel Initiativen oder aber auch Aktionen des zivilen Widerstands wie Blockaden oder zielgerichtete Demonstrationen.
«Es war mir wahnsinnig unangenehm, mich auf die Strasse zu kleben.»
Marie Seidel, Renovate Switzerland
Blockaden und medienwirksame Aktionen sind das Markenzeichen von Renovate. Mit diesen haben sie es geschafft, alle anderen Akteure der Klimabewegung medial in den Hintergrund zu drängen. Das zeigt unter anderem eine Auswertung des «Spiegels» für die deutsche «Letzte Generation», die Schwesterorganisation von Renovate.
«Es macht uns sicher keinen Spass, die Leute auf dem Weg in ihre Ferien zu stören», sagt Marie Seidel. Sie hat kurze, gebleichte Haare und trägt schlichte blaue Hosen und ein weisses Shirt. Die 35-Jährige engagiert sich seit über einem Jahr bei Renovate Switzerland. Zu den jüngsten Aktionen der Gruppe gehören die Blockade der Gotthard-Autostrecke an diesen Ostern und die Störaktionen von Aktivistinnen und Aktivisten beim Filmfestival Locarno und bei einem klassischen Konzert in Luzern.
Seidel hat ihren Job beim WWF gekündigt, um sich ganz ihrem Aktivismus bei Renovate widmen zu können. Jetzt lebt sie von 400 Franken Lohn im Monat und ihrem Ersparten. Von dem bezahlt sie auch die zahlreichen Bussen, die sie bereits für ihren Aktivismus erhalten hat, unter anderem für ihre Aktion in Altstetten.
«Es war mir wahnsinnig unangenehm, mich auf die Strasse zu kleben. Und ich verstehe auch gut, dass die Leute wütend wurden. Doch diese Aktionsform ist notwendig, um sich Gehör zu verschaffen.» Um die Klimakrise zu bewältigen, brauche es Aufmerksamkeit. «Die Gesellschaft muss verstehen, in was für einem Notstand wir uns befinden», sagt Seidel. Ihre Aktionen liessen niemanden kalt, alle würde gezwungen, Position zu beziehen und sich mit der Thematik auseinanderzusetzen.
Das Ziel von Renovate Switzerland ist laut Seidel, einen «sozialen Kipppunkt» zu erreichen. Darunter versteht sie den Punkt, an dem die gesellschaftliche Stimmung sich grundlegend ändert und es zum Beispiel inakzeptabel wird, Öl und Gas zu verbrennen. Um das zu erreichen, will die Bewegung ein Prozent der Bevölkerung hinter sich versammeln. Das entspricht in der Schweiz knapp 90’000 Personen. Aktuell aktiv bei Renovate sind knapp 200 Personen.
«Slow March» statt Klebe-Blockade
Renovate muss also anschlussfähiger werden. Für den Herbst hat die Gruppe nun ihre Taktik ausgedehnt. Neu werden sie sich nicht mehr auf der Strasse festkleben, sondern langsam gehen. «Das ist für viele Leute ein erster, einfacher Schritt in den zivilen Widerstand», sagt Seidel. In den nächsten vier Wochen sind sechzehn solcher «Slow Marches» geplant. Bewilligungen wird Renovate nicht einholen. Sie würden jedoch die Polizei 24 Stunden im Voraus informieren, sagt Seidel. Dass die Polizei sie dann einfach abfängt, nehmen die Aktivistinnen und Aktivisten in Kauf. Sie wollen auf jeden Fall gewaltfrei bleiben, sagt Seidel. «Man löst Gewalt nicht mit Gewalt.»
Mit den gewaltfreien Aktionen versucht Renovate auch die Sympathien der Bevölkerung zu erlangen. Doch um diese steht es aktuell nicht sehr gut. Die «Klimakleber» sind gemäss einer Umfrage von Sotomo das zweitgrösste Ärgernis des Landes. Nur über die Misswirtschaft der CS regen sich die Schweizerinnen und Schweizer noch stärker auf. An der Passivität gegenüber der Klimakatastrophe stören sie sich hingegen erst an siebter Stelle.
Das zeigte sich auch bei der Anzahl der Teilnehmenden bei den Streiks. Demonstrierten 2019 am nationalen Klimastreik noch fast 100’000 Leute in Bern, waren es im vergangenen März im ganzen Land keine 5000 mehr. Vor vier Jahren waren die Grünen und die Grünliberalen die grossen Gewinnerinnen der nationalen Wahlen. Für dieses Jahr sagen die Prognosen deutliche Verluste voraus.
Der Grund für den schlechten Zustand der Klimabewegung sieht Cyrill Hermann vom Klimastreik Zürich vor allem in drei Punkten: Corona, Frust und dem Mangel einer klaren Vision. «Eine soziale Bewegung lebt vom persönlichen Austausch, vom gemeinsamen Erleben auf der Strasse», sagt der 20-jährige Aktivist. Das habe während Corona alles gefehlt. Dem pflichtet auch Seidel bei.
Schlimmer noch war für Hermann jedoch die Enttäuschung darüber, dass man trotz der zahlreichen Proteste so wenig erreicht habe. «Wir hatten diese grüne Welle bei den Wahlen, und herausgekommen ist nichts ausser Pflästerlipolitik. Das hat viele von uns desillusioniert.» Als auch radikalere Aktionen wie die Besetzung des Bundesplatzes 2020 zu nichts geführt hätten, seien viele in eine Ohnmacht gefallen, sagt Hermann.
Doch auch die Bewegung selber habe Fehler gemacht: «Wir waren uns uneinig darin, inwiefern wir auf die Regierung vertrauen sollten. Das resultierte in internen Spannungen, beim CO₂-Gesetz waren zum Beispiel einige Regionen dafür, andere dagegen.»
Schadet Renovate der Klimabewegung?
In letzter Zeit wurde von verschiedenen Seiten auch immer wieder der Vorwurf geäussert, dass Renovate mit ihren Methoden Schuld habe am Niedergang der Klimabewegung. Darum die Frage an Cyrill Hermann: «Hat Renovate der Klimabewegung geschadet?»
Hermann überlegt einen Moment und antwortet dann vorsichtig mit «Jein». «Die Leute, die uns unterstützen, haben grundsätzlich Verständnis für das Vorgehen von Renovate. Die mediale Aufmerksamkeit hat sich aber sicher von uns weg verschoben», sagt er. «Mich persönlich überzeugt ihre Strategie nicht wirklich.» Der Klimastreik habe bereits über ein Prozent der Bevölkerung hinter sich gehabt, als in Bern 100’000 Leute demonstriert hätten. «Genützt hat es trotzdem nichts», sagt Hermann. Es brauche nicht nur einen Wandel in den Köpfen, sondern auch einen «konkreten Wandel im System». Und weiter: «Wir müssen Mehrheiten hinter unsere Anliegen bringen und die Bevölkerung in den Kampf einbinden.» In Zürich gelingt das laut Hermann gut, und die Bewegung sei auch schon wieder am Wachsen.
Seidel und Hermann betonen beide, dass alle Formen des Protestes Platz in der Klimabewegung haben sollten und dass man gegenseitig «solidarisch» sei. Wirklich zu begeistern scheinen sie sich für die Aktionen der anderen Gruppe jedoch nicht.
«Ich habe mir mein Leben definitiv anders vorgestellt»
Vollstes Verständnis haben sie jedoch für ihre Gründe, warum sie all den Aufwand betreiben. «Es hilft mir, die ständige Angst vor der Klimakatastrophe zu kontern», sagt Hermann. Er sieht es als «privilegierter Europäer» als seine Pflicht, sein Möglichstes zu machen. «Bekannte von mir im globalen Süden leiden schon heute unter dem Klimawandel. Eine befreundete Klimaaktivistin aus Brasilien wurde wegen ihres Engagements erschossen. Wie kann ich da still sitzen?»
Seidel nickt bestätigend. «Als ich auf der Strasse geklebt habe, fragte ich mich, was ich hier eigentlich mache. Ich habe mir mein Leben definitiv anders vorgestellt. Aber ich sehe es als meine Pflicht gegenüber meinen acht Neffen und Nichten, dafür zu kämpfen, dass auch sie eine Zukunft haben», sagt Seidel.