«Am ersten Tag konnte ich gar nicht glauben, wo ich bin»

Schweizer Gaza-Rückkehrer

Ein Rentner aus Basel besuchte zum ersten Mal seit Jahren seine Verwandten in Gaza. Dann hat die Hamas Israel attackiert. Wochenlang musste er im Kriegshorror ausharren. (Tages-Anzeiger, 11.11.2023)

«Im Krieg gibt es keine Pyjamas», sagt Ibrahim E. Wenn der 76-Jährige in den letzten Wochen zu schlafen versuchte, behielt er seine Kleider an. An Schlaf war ohnehin kaum zu denken. Ständig hörte er das Sirren der israelischen Drohnen über den Dächern von Gaza und das Einschlagen der Bomben. Beim Einschlafen wusste er nicht, ob er am Morgen wieder erwachen würde. 

Das erzählt der Rentner in seinem Wohnzimmer in einem ruhigen Basler Vorort. In der Erde einer Zimmerpflanze steckt ein Palästina-Fähnchen, in den Schrebergärten neben dem Haus wehen die Schweizer Flaggen.

Seit etwas mehr als einer Woche ist der ehemalige Automechaniker wieder in der Schweiz, wo er seit über 50 Jahren lebt. Als junger Erwachsener ist er für ein Praktikum nach Basel gekommen und hiergeblieben. Seine Verwandten in Gaza kann der gebürtige Palästinenser, der nur den Schweizer Pass besitzt, selten besuchen.

Als er die Bomben hörte, wusste er: Es herrscht Krieg

Ende August reiste er zum ersten Mal seit zwölf Jahren zu seiner Familie. Am 10. Oktober wollte er wieder zurück sein. Stattdessen sass er fast einen Monat lang im Kriegsgebiet fest. 

Denn am Morgen des 7. Oktober hat die islamistische Hamas Israel angegriffen. Sie feuerten aus dem Gazastreifen heraus Tausende Raketen auf israelische Städte, Hunderte Terroristen überwanden den Grenzzaun. Sie drangen in Dörfer ein und massakrierten die Bewohner. Sie töteten Kinder, vergewaltigten Frauen und entführten über 200 Geiseln nach Gaza. Etwa 1200 Personen starben laut dem israelischen Aussenministerium beim Angriff.* 

Als Ibrahim E. an diesem Morgen, umgeben von seiner Familie, die Bomben und Raketen hörte, wusste er: Es herrscht Krieg.

Wenige Stunden nach dem Hamas-Angriff begann die israelische Armee, Ziele im Gazastreifen zu bombardieren. Die Bomben fielen auch im Flüchtlingslager Bureij. Im dicht besiedelten Lager in der Mitte des Gazastreifens war Ibrahim E. bei Angehörigen untergekommen. Zahlreiche Gebäude wurden zerstört.

«Um nicht von den herumfliegenden Splittern getroffen zu werden, haben wir möglichst weit in den Ecken geschlafen.»

Ibrahim E.

Laut Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums wurden seit dem 7. Oktober über 10’000 Menschen bei Israels Angriffen getötet, darunter Kinder sowie Journalistinnen und Journalisten. 

«Wir hatten grosses Glück, das Haus, in dem ich gewohnt habe, wurde nicht getroffen», sagt Ibrahim E. Doch bei Einschlägen in der Nachbarschaft habe jeweils das ganze Quartier gebebt. «Die Häuser sind nicht sehr stabil gebaut. Unsere Fenster und Türen sind kaputt gegangen. Um nicht von den herumfliegenden Splittern getroffen zu werden, haben wir möglichst weit in den Ecken geschlafen.»

Mit dem Hamas-Angriff und dem Kriegsbeginn war eine Ausreise schwierig bis unmöglich geworden. 

Trotzdem ging Ibrahim E., wie ursprünglich geplant, am 10. Oktober zum Grenzübergang Rafah im Süden von Gaza. «Ich hatte meine Papiere schon gestempelt und wartete auf die Ausreise, als ein israelisches Flugzeug Bomben auf die Strasse Richtung Ägypten warf», sagt er. «Sie brachten Verletzte in die Wartehalle, und die Polizei sagte uns, wir müssten nach Hause, die Grenze sei geschlossen.»

Die Erzählungen lassen sich im Detail nicht überprüfen. Doch stimmen die Details und Zeitangaben in vielem mit anderen Berichten von Augenzeugen und internationalen Medien überein.

Nach der gescheiterten Ausreise ging Ibrahim E. zurück zu seiner Familie in Bureij, wo die Situation immer schlimmer wurde, später kam er bei Freunden in Rafah unter. Zu Beginn habe die israelische Armee die Bewohner vor Angriffen noch gewarnt. Das sei später nicht mehr der Fall gewesen.

«Es gab auch immer weniger Strom, Gas, Essen und Wasser. Zu Beginn des Kriegs habe er noch zwei- bis dreimal täglich mit seiner Familie in der Schweiz telefonieren können. Doch dann fiel der Telefon- und Internetempfang immer häufiger aus», sagt der 76-Jährige. Sein erwachsener Sohn informierte die Schweizer Behörden und bat diese um Hilfe für seinen Vater. 

Dieser versuchte mehr als zwei Wochen lang wiederholt, eigenständig auszureisen. «Manchmal hiess es am Morgen im Radio, dass Ausländer Gaza verlassen können. Doch die Polizisten an der Grenze schickten uns immer wieder zurück», sagt Ibrahim E.

Der erlösende Anruf kam am 1. November um 22 Uhr: Die Schweizer Vertretung in Ramallah teilte Ibrahim E. mit, dass er auf der Liste der Ausländer stehe, die Gaza verlassen dürften. Um neun Uhr am nächsten Morgen konnte er gemeinsam mit Hunderten anderen Ausländerinnen und Ausländern verschiedener Herkunft die Grenze passieren. Ermöglicht hatte die Ausreise eine Abmachung zwischen Ägypten, Israel und der Hamas. Zustande kam sie unter der Vermittlung von Katar und in Absprache mit den USA. 

Auf der ägyptischen Seite wurde Ibrahim E. von Mitarbeitern der Schweizer Botschaft in Ägypten in Empfang genommen, gemeinsam mit einer sechsköpfigen Familie aus Genf. Nach einer Nacht in Kairo konnte er am vergangenen Freitag zurück in die Schweiz fliegen. 

«Am ersten Tag hier konnte ich gar nicht glauben, wo ich bin. Meine Frau musste mir immer wieder versichern, dass ich wieder zu Hause bin», sagt Ibrahim E. Langsam finde er jetzt wieder zurück in den Alltag. Doch er schlafe weiterhin schlecht. «Ich habe das Donnern der Bomben immer noch in meinen Ohren.»

Über die aktuelle politische Stimmung in Gaza möchte Ibrahim E. nicht sprechen. Auch ins Detail gehen, was er in den letzten Wochen in Gaza erlebt hat, will er nicht. Er bleibt während des ganzen Gesprächs sehr sachlich. «Die Dinge, die ich gesehen habe, kann man nicht richtig erzählen.» Erst gegen Ende sagt er, dass auch aus seiner erweiterten Familie rund 50 Menschen bei der Bombardierung eines mehrstöckigen Hauses gestorben seien.

Der 76-Jährige hofft auf baldigen Frieden. «Die Menschen müssen wissen, wie es ihren Familien geht und Zeit haben, die Toten und Verschütteten zu bergen.» In den letzten Tagen sei es nicht möglich gewesen, seine Verwandten zu kontaktieren. Er nimmt sein Handy und wählt über Internettelefonie die Nummer seines Neffen in Gaza. Nach zwei Pieptönen bricht die Verbindung ab. 

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