
Behinderung durch Alkohol
Die fetale Alkoholspektrumstörung ist die häufigste nicht genetische geistige Behinderung der Schweiz. Betroffene vergessen oft Dinge, können sich nicht konzentrieren. Zwei Familien erzählen. (Tages-Anzeiger, 26.08.2024)
Nico Maurer hat Löcher im Gehirn. Zumindest fühlt es sich für ihn so an. «Jeder Tag ist wie ein Glücksspiel. Manchmal kann ich mir die Dinge merken, manchmal vergesse ich alles.» Nico ist 25 Jahre alt und sitzt mit seinen Adoptiveltern am Küchentisch. Sie haben lange diskutiert, ob sie ihre Geschichte öffentlich machen wollen. Aus Angst vor Vorurteilen möchten sie anonym bleiben, ihre Namen wurden darum geändert.
Nicos Schwierigkeiten – seine Löcher im Gehirn – kommen vom Alkohol. Seine leibliche Mutter hat während der Schwangerschaft getrunken. Er kam mit FAS zur Welt, dem fetalen Alkoholsyndrom. Es ist die häufigste nicht genetische geistige Behinderung in der Schweiz.
Gemäss Schätzungen kommt schweizweit eines von 200 Kindern mit FAS auf die Welt. Das sind jedes Jahr 400 Kinder. Eine fetale Alkoholspektrumstörung (FASD), also eine leichtere Form von FAS, haben gemäss Schätzungen des Bundes jährlich 1700 Neugeborene. Es gibt schweizweit also Tausende Betroffene. Dennoch wissen nur die wenigsten, dass es FAS überhaupt gibt.
FAS-Betroffene handeln oft impulsiv
Auch Nico und seine Adoptivfamilie wussten lange nicht Bescheid. Hätten sie von Anfang an von seiner Behinderung gewusst, wäre ihnen wohl so mancher Konflikt erspart geblieben.
FAS-Betroffenen fällt es schwer, sich in andere hineinzuversetzen, sie haben kein Gespür für Konsequenzen, handeln häufig impulsiv und können sich nur schlecht konzentrieren. Sie sprengen soziale Normen und gelten in der Schule häufig als Problemkinder. Bei Nico ist es vor allem das Vergessen. Als Kind vergass er die Hausaufgaben, heute sind es Rechnungen, Termine oder seine vielen Schuhe im Eingang. Und zwar ständig. Alltägliche Situationen überfordern ihn schnell. Häufig führt das zu Frust, manchmal zu Wutanfällen. Und zu Streit. FAS verlangt dem Umfeld viel ab.
Auch an diesem Tag läuft nicht alles so, wie es sollte. Obwohl das Interview schon lange abgemacht war, hat Nico fast gleichzeitig noch einen Arzttermin vereinbart. Diesen vergisst er während des Gesprächs komplett. Seine Mutter Vera Maurer muss ihn daran erinnern. «Nico, in zehn Minuten musst du los.» «Jaja, ich will nur noch kurz was erzählen!» Gut zehneinhalb Minuten später fragt der 25-Jährige: «Papi, kannst du mich vielleicht nicht doch kurz fahren?»
Früher wären seine Eltern wütend geworden. Heute verdrehen sie leicht die Augen. Höchstens. Sie wissen, dass er das nicht extra macht, sondern es einfach nicht besser kann. Prioritäten setzen und die Zeit richtig einteilen. FAS verlangt dem Umfeld viel ab.
Alkohol greift das Gehirn an
Nicos leibliche Mutter war drogen- und alkoholabhängig. Was sie während der Schwangerschaft konsumierte, gelangte auch in Nicos Körper. Die Leber eines Fötus kann Alkohol nicht abbauen. Das Nervengift Alkohol greift den sich entwickelnden Körper ungehindert an. Besonders betroffen ist das Frontalhirn. Dieses ist unter anderem für vorausschauendes Denken, Impulskontrolle und Konzentration zuständig – all die Dinge, die Nico schwerfallen.
Mit 9 Jahren wurde bei ihm ADS diagnostiziert, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Man sagte der Familie, dass er sich schon irgendwann Dinge werde merken können – mit häufigem Repetieren, mit viel Geduld. Doch es wurde nicht besser. Sein Zustand verschlechterte sich eher noch. In der Regelschule ging es irgendwann nicht mehr. Nico kam in die Kleinklasse einer Privatschule. Die Lehre im Detailhandel absolvierte er in geschütztem Rahmen.
Seine Stelle im Reformhaus, wo er Teilzeit arbeitete, musste er nach einer Weile aufgeben. «An manchen Tagen wusste ich nicht einmal mehr, wie die verschiedenen Brote heissen», sagt Nico Maurer. Es war eine Zeit mit vielen Fragen.
FAS-Diagnose mit 22
Eine Antwort erhielt er erst 2021. Nico war damals 22 Jahre alt. Er konsultierte einen Psychiater wegen einer Abklärung für die Invalidenversicherung. Dieser sagte ihm, dass er mit grosser Wahrscheinlichkeit FAS habe.
Wütend auf seine leibliche Mutter ist er nicht. «Alkoholsucht ist eine Krankheit. Sie hat mir nicht absichtlich geschadet. Dafür, dass sie mir mein Leben geschenkt hat, bin ich ihr sehr dankbar.»

FAS könne man auch am Äusseren der Kinder erkennen, sagt Oskar Jenni, Entwicklungsspezialist am Kinderspital Zürich. «Kinder mit FAS haben besondere Gesichtsmerkmale. Sie haben typischerweise eine schmale Oberlippe und eine enge Augenlidspalte.» Auch das sogenannte Philtrum, die Vertiefung zwischen Mund und Nase, ist häufig weniger ausgeprägt. Das war auch bei Nico als Kind so. Heute sind die Merkmale herausgewachsen.
FAS-Betroffene seien zudem bei der Geburt klein oder leicht und zeigten im Verlauf Entwicklungsprobleme, zum Beispiel eine Lernschwäche, eine Sprachstörung oder auffälliges soziales Verhalten, sagt Jenni.
Treffen nicht alle Merkmale zu, kann immer noch die abgeschwächte Variante FASD diagnostiziert werden, besonders wenn die behandelnden Ärztinnen und Ärzte wissen, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol konsumiert hat. Mit einem Gehirnscan lassen sich FAS oder FASD jedoch nicht diagnostizieren.
Fast jede fünfte Schweizerin trinkt während Schwangerschaft
Wie viel Alkohol es braucht, um das Gehirn zu schädigen, ist bis heute unklar. Je mehr und je öfter die Mutter trinkt, desto grösser ist das Risiko. Gemäss einer Untersuchung des Bundes von 2018 trinkt in der Schweiz fast jede fünfte Frau während der Schwangerschaft wöchentlich Alkohol. Sechs Prozent der Frauen gaben an, in dieser Zeit monatlich grössere Mengen getrunken zu haben.
Auch der Zeitpunkt des Konsums spielt für das Kind eine Rolle. Die Gefahr ist laut Jenni im ersten Drittel der Schwangerschaft am grössten – dann, wenn viele Frauen noch nicht einmal wissen, dass sie ein Kind erwarten. Es gibt keine Menge, von der mit wissenschaftlicher Sicherheit gesagt werden kann, dass sie ungefährlich ist. Der Kinderarzt empfiehlt deshalb, auf Nummer sicher zu gehen und während der Schwangerschaft gar keinen Alkohol zu trinken. «Wer aber einmal ein Glas Prosecco getrunken hat, muss kein schlechtes Gewissen haben.»
Selbstvorwürfe und Scham dürften mit ein Grund sein, weshalb FAS und FASD erst spät oder gar nicht diagnostiziert werden. Häufig sind es Pflege- oder Adoptivkinder, bei denen der Konsum der Mutter aktenkundig ist. Denn kaum eine Mutter möchte zugeben, dass sie während der Schwangerschaft getrunken hat. Andererseits scheint aber auch bei manchen Medizinern das Bewusstsein für die Behinderung zu fehlen. So hatte keine der vielen Ärztinnen und Psychologen, die Nico seit seiner Kindheit besucht hatte, das FAS erkannt.
Doch auch mit einer Diagnose allein verschwinden die Probleme nicht. Davon kann Tim Schweizer einige Geschichten erzählen.
Behinderung wird für Ausrede gehalten
Der 21-Jährige hat die Statur eines etwas zu klein geratenen Schwingers. Wer mit ihm spricht, käme nie auf die Idee, dass der junge Mann eine Einschränkung hat. Doch Tim hat ebenfalls FASD. Auch er heisst eigentlich anders.
Sein Pflegevater Andreas Weber hat nach eigenen Recherchen schon relativ früh die Vermutung aufgestellt, dass Tim diese Schädigung haben könnte. Später haben ihm Spezialisten seinen Verdacht bestätigt. Doch in der Schule hat Tim diese Erkenntnis nicht immer geholfen.
«Wenn ich sagte, dass ich die Hausaufgaben nicht absichtlich schon wieder vergessen habe, sondern aufgrund meiner Schädigung, dann hat das mein Lehrer jeweils als dumme Ausrede abgetan.» Auch später, während seiner Ausbildung zum Koch in einem auf Menschen mit Beeinträchtigung spezialisierten Betrieb, wurde Tim regelmässig verwarnt, und ihm wurde mit der Kündigung gedroht, weil er Dinge vergass.
Eine Betreuerin soll ihm sogar mal gesagt haben, er solle sich nicht so anstellen, er würde ja schon können, wenn er wollte. «Von Tim zu verlangen, er soll nicht so vergesslich sein, ist so, wie von jemandem im Rollstuhl zu verlangen, er soll doch einfach laufen», sagt Andreas Weber.
Menschen mit FASD geraten häufig in Konflikte
Tim will Koch werden und für eine Zeit in Kanada arbeiten. Den ersten Teil der Ausbildung hat er mit sehr guten Noten abgeschlossen. In seiner Freizeit macht er Steinskulpturen, spielt Eishockey, geht gern in den Ausgang und hat eine Freundin. Doch ob er je ganz selbstständig sein Leben führen kann, ist ungewiss – wie bei so vielen erwachsenen FASD-Betroffenen.
Mit ihrer Vergesslichkeit, der schlechten Impulskontrolle und der Unfähigkeit, Konsequenzen abzuschätzen, ist die Gefahr gross, dass sie aus der Bahn geraten. Sie geraten in Konflikte, weil die Mitmenschen nicht verstehen, dass sie eine Behinderung haben, oder werden ausgenutzt. Eine schon etwas ältere Studie aus den USA kam zum Schluss, dass über ein Drittel der Menschen mit FASD mindestens einmal im Gefängnis waren.
Anlaufstelle für FASD-Betroffene
Auch Nico Maurers Zukunft ist noch ungewiss. Aktuell erhält er regelmässig Besuch von einer psychiatrischen Spitex-Mitarbeiterin, die ihm unter anderem hilft, seine Rechnungen rechtzeitig zu bezahlen. Aber ob er wie geplant eines Tages den elterlichen Bauernhof verwalten kann? Vera Maurer und ihr Mann schauen sich etwas ratlos an. «Nico ist ein sehr offener Mensch mit einer sozialen Ader und viel Kreativität, aber im Alltag wird er wohl nicht ohne Unterstützung zurechtkommen.»
Nicht zu wissen, was man tun soll, ist ein Gefühl, das viele FAS-Betroffene und ihre Familie begleitet. Abgesehen von wenigen Fachartikeln gibt es online kaum Informationen, Selbsthilfegruppen gibt es nicht.
Das soll sich jetzt jedoch ändern. Tims Pflegevater, Andreas Weber, möchte in der Schweiz eine Anlaufstelle für betroffene Jugendliche, ihre Familien und Pflegefamilien aufbauen, so wie es sie in Deutschland schon seit Jahren gibt. Gemeinsam mit der Schweizer Fachstelle für Pflegefamilien ist er daran, Familien zu vernetzen. Vor einem halben Jahr hat die Fachstelle zum ersten Mal einen Austausch mit Fachpersonen zum Thema organisiert.
Viel mehr als sich austauschen und sensibilisieren kann man jedoch nicht machen gegen FASD. Einzelne Symptome lassen sich mit Therapien lindern, doch die Behinderung selbst ist nicht heilbar.
Was sich jedoch ändern könne, sei der Umgang mit Menschen mit FASD, sagt Kinderarzt Oskar Jenni. Die interviewten Betroffenen wünschen sich deshalb, dass die Behinderung bekannter wird. Nico Maurer sagt: «Es wäre schön, wenn ich den Leuten eines Tages sagen könnte, dass ich FAS habe, und sie dann wissen, dass sie mit mir etwas mehr Geduld haben müssen.»