«Wir sollten Buben als Menschen behandeln, nicht als kleine Männer»

Samstagsgespräch mit Feministin Ruth Whippman

Während die Rollenbilder für Frauen immer flexibler würden, blieben die unrealistischen Ansprüche an Männer bestehen, sagt die Feministin und Buchautorin Ruth Whippman. (Tages-Anzeiger, 20.07.2024)

Feministinnen haben eine abschätzige Bezeichnung dafür, wenn Männer sich beklagen, dass die Gesellschaft sie benachteilige: «Male Tears», also männliche Tränen. Die britisch-amerikanische Buchautorin Ruth Whippman bezeichnet sich als Feministin. Mit «Boymum» hat sie aber nun ein Buch darüber geschrieben, wie schwer es Buben und junge Männer in der heutigen Gesellschaft haben. Diese litten vor allem an zwei Dingen: an unerreichbaren Männlichkeitsidealen und an Einsamkeit. 

Ruth Whippman, Sie sind Feministin und kümmern sich nun in Ihrem neuen Buch um die Probleme von Buben und jungen Männern. Warum?

Das liegt in erster Linie daran, dass ich selbst Mutter von drei Jungs bin. Als ich mit meinem dritten Sohn schwanger war, wurde Trump gerade ins Weisse Haus gewählt und die #MeToo-Bewegung nahm Fahrt auf. Alles drehte sich um toxische Männlichkeit und den Schaden, den Männer in der Welt anrichten. Da habe ich mich gefragt, zu was wir eigentlich unsere Buben erziehen.

Jetzt ist Ihr Buch aber mehr geworden als einfach ein Ratgeber dafür, wie man Jungs zu guten Männern erzieht.

Ich habe Studien analysiert, mit Fachleuten gesprochen und Dutzende Jungs interviewt, vom liberalen College-Studenten bis zum Frauenhasser im Internet. Dabei habe ich gemerkt, dass die Art und Weise, wie Buben erzogen werden, nicht nur Probleme für Mädchen und Frauen bringt, sondern vor allem auch für die jungen Männer selbst.

Wieso?

Es geht den Buben nicht gut. Sie schneiden schulisch vom Kindergarten bis zum Masterstudium schlechter ab als Mädchen, sind häufiger Opfer von Gewalt, begehen über dreimal häufiger Suizid und sind öfter einsam.

Konservative Stimmen sagen, das liege unter anderem am Erstarken des Feminismus.

Viele Feministinnen haben in letzter Zeit keine gute Arbeit geleistet, wenn es darum ging, Buben und junge Männer anzusprechen. Mit #MeToo kam bei manchen ein Bedürfnis auf, es Männern heimzuzahlen. Das hat sicher viele Buben verunsichert. Auch haben viele Teenager, mit denen ich gesprochen habe, Angst, zu Unrecht als sexuelle Übeltäter gecancelt zu werden. Doch es stimmt zum Beispiel nicht, dass es eine Feminisierung der Schulen gab, die den Buben geschadet hat.

Warum schneiden diese dann immer schlechter ab als Mädchen?

Das liegt zum einen daran, dass die Mädchen massiv zugelegt haben. Lange Zeit waren sie es, die in der Schule benachteiligt wurden. Diese Hürden wurden in den letzten Jahren weitestgehend abgeschafft. Doch Jungs haben tatsächlich Nachteile in der Schule. Diese haben aber nichts mit dem Feminismus zu tun.

Welche?

Es ist bewiesen, dass sich gewisse Teile des Gehirns bei Buben später entwickeln. Dazu haben sie häufig auch einen sozial-emotionalen Rückstand. Es fällt ihnen schwerer, ihre Gefühle zu kontrollieren, und sie haben häufiger Wutausbrüche. Das führt zu Strafen und schulischem Frust. Ausserdem machen Eltern mit Buben weniger vorschulische Aktivitäten wie Lesen oder Zeichnen. Wenn, dann müssten Jungs also noch stärker «wie Mädchen» erzogen werden.

Jungs müssen wie Mädchen erzogen werden?

Buben wird von klein an weniger emotionale Wärme geschenkt als Mädchen. Erwachsene sprechen mit Buben weniger über ihre Gefühle und trösten sie zum Beispiel seltener. Stattdessen rangeln sie mit ihnen. Dazu gibt es zahlreiche Experimente. Dabei bräuchten sie sogar noch mehr Bestärkung, weil sie als Babys erwiesenermassen sensibler sind.

Ist der Unterschied in der Erziehung zwischen den Geschlechtern nicht langsam passé? Es gibt doch längst nicht mehr nur Puppen für Mädchen und Schwerter für Buben?

Leider nein. Spielzeuge sind heute sogar noch stärker gegendert als früher, was in erster Linie daran liegt, dass sich damit Geld verdienen lässt. Studien zeigen, dass Spielzeuge für Jungs immer gewalttätiger werden.

Fehlen die Vorbilder?

Heute gibt es zum Glück ganze Regale voll mit Büchern für Mädchen mit Geschichten, in denen die Heldin Anwältin oder Astronautin wird. Aber wo sind die Bücher für Jungs, in denen es um Gefühle und Freundschaften geht? Und zwar nicht nur als kleiner Nebenstrang, um dann gemeinsam ins nächste Abenteuer zu stürzen. Die neuen Disney-Prinzessinnen sind alles starke, selbstständige Frauen. Aber Männer in Filmen sind bezüglich Emotionen nach wie vor häufig unfähige Idioten, ein Witz. Das muss sich ändern.

Das Männlichkeitsbild hat sich für Buben also nicht geändert?

Nein. Die Geschlechterrollen für Mädchen und nonbinäre Kinder und Jugendliche sind in den letzten Jahren viel durchlässiger geworden. Bei den Buben hat sich aber kaum etwas bewegt.

Wie sieht dieses Männlichkeitsbild denn aus?

In erster Linie zeichnet es sich dadurch aus, dass Männer keine Schwächen zeigen und nicht feminin sein sollen.

So simpel?

Natürlich sind alle Männer unterschiedlich, und es gibt viele Abstufungen. Aber es hat mich selbst überrascht, wie einheitlich die Männlichkeitsbilder der Buben waren, die ich interviewt habe. Egal ob schwarz und aus einer prekären Gegend oder weiss und an einer teuren liberalen Privatschule: Alle haben mir von derselben Angst erzählt, als schwach, verletzlich oder weiblich zu gelten.

Und was macht das mit den Buben?

Für viele bedeutet das Einsamkeit. Auch wenn sie teils viele Freunde haben und beliebt sind, haben mir viele der interviewten Jungs gesagt, dass sie sich einsam fühlen. Dass sie mit ihren männlichen Freunden kaum je vertieft über ihre Gefühle sprechen. Einerseits aus Angst und aus Scham, als schwach zu gelten. Andererseits aber auch, weil sie gar nicht wissen, wie das geht.

Hat Männlichkeit keine positiven Seiten?

Doch natürlich. Viele Dinge, die wir mit Männlichkeit verbinden, sind wichtig. Mut, Stärke, in schwierigen Momenten emotional ruhig zu bleiben, sind tolle Eigenschaften. Doch das Problem ist, dass wir dies von Männern erwarten. Sonst gelten sie als unmännliche Versager. Bei Frauen sind wir da viel weiter. Diese dürfen weiblich sein, ohne es zu müssen. Weiblichkeit als allgemeingültiges Konzept gilt als überholt. Eine Schlagzeile im Stil von «Ist das die Zukunft der Weiblichkeit?» ist kaum mehr vorstellbar. Bei Männern und Männlichkeit hingegen ist das normal.

Sollten wir uns von den Begriffen Männlichkeit und Weiblichkeit trennen?

Nein, diese Begriffe werden wir kaum je loswerden. Aber ich wünschte mir, dass wir uns damit etwas mehr zurücknehmen. Dass wir Jungs einfach als Menschen behandeln und nicht immer als kleine Männer.

Wie viel kann man mit Erziehung überhaupt erreichen? Sind gewisse Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht einfach von Natur aus gegeben?

Natürlich gibt es biologische Faktoren. Aber die Erziehung kann man im Gegensatz zur Biologie ändern. Ich halte es deshalb für viel interessanter, diesen Teil anzuschauen. Und wenn man sieht, wie sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verändert hat, dann macht mich das sehr zuversichtlich. Und die Recherche für mein Buch hat mir gezeigt, dass das Potenzial für tiefe, emotionale Beziehungen bei Männern absolut vorhanden ist.

In Ihrem Buch erzählen Sie von Männern, die sich um Buben in emotionalen Krisen kümmern.

Genau, da gibt es zum Beispiel einen Teenager auf der Internetplattform Discord, die vor allem von Buben benutzt wird. Er lebt bei seiner Grossmutter im Keller und ist ein typischer Gamer. Doch während der Pandemie hat er sich auf der Plattform um rund 200 Personen gekümmert, die mit dem Gedanken spielten, sich das Leben zu nehmen.

Wie erzieht man Jungs denn zu gesunden und anständigen Menschen?

Es gibt nicht das eine Rezept, das für alle Kinder passt. Aber wenn wir Buben von Anfang an so viel Zuneigung und Verständnis entgegenbringen, wie wir es mit Mädchen machen, dann ist das ein guter Anfang. Wir müssen ihnen beibringen, wie man Emotionen ausdrückt und wie man sich um andere kümmert. Natürlich sollte man mit ihnen auch über den Schaden sprechen, den Männer in der Vergangenheit angerichtet haben, über «Consent» und «Rape Culture». Aber wir sollten Buben nicht dafür verantwortlich machen, was Generationen von Männern vor ihnen verbrochen haben, das wäre nicht fair.

Also mehr Zuneigung statt Kontrolle und Verbote?

Absolut, jemandem Schuldgefühle zu machen, hat noch nie jemandem geholfen.

Was haben Frauen und Mädchen davon, wenn zukünftige Männer einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen haben?

Es reicht nicht, wenn Männer ihre Probleme einfach besser ausdrücken können, um diese dann bei Frauen und Mädchen abzuladen. Sie müssen auch lernen, sich um die Emotionen von anderen zu kümmern. Das würde Frauen viel emotionale Arbeit abnehmen. Ich kenne viele Paare, bei denen die Männer nicht mit ihren Freunden sprechen, sondern alle emotionale Unterstützung nur von ihrer Partnerin kommt. Und es würde die Welt sicherer machen für Mädchen und Frauen.

Wie meinen Sie das?

Studien zeigen, dass ein Grossteil männlicher Gewalt aus dem Frust entsteht, Männlichkeitsidealen nicht gerecht zu werden. Ich bin sicher, dass, wenn wir Buben weniger mit unerfüllbaren Männlichkeitsbildern konfrontieren und ihnen stattdessen ermöglichen, ihre Emotionen zum Ausdruck zu bringen, sich selbst zu spüren und ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen, dann nicht nur die Männer profitieren, sondern auch wir Frauen.

Ihr Buch ist dazu angelegt, Feministinnen und Männer zu versöhnen. Wie kommt das an?

Es gab natürlich die üblichen Kommentare von Männern im Internet, dass ich sterben solle, und von Frauen, die kritisieren, dass ich damit von den Anliegen von Frauen ablenke. Aber unter dem Strich erhalte ich sehr viel Zuspruch, gerade auch von Männern, die ihr eigenes Aufwachsen darin wiedererkennen. Und eigentlich betonen Feministinnen ja schon lange, dass das Patriarchat auch Buben und Männern schadet. In den letzten Jahren ist diese Haltung einfach etwas in den Hintergrund geraten.

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