«Der Lockdown brachte viele ohnehin schon labile Familiennetze zum Wanken.»

Frust, Überstunden und Kündigungen – Lage in Zürcher Heimen spitzt sich zu

Egal ob Heim, Asylorganisation oder Sozialdienste: Das Personal in den Zürcher Sozialinstitutionen ist knapp. Lange Wartezeiten und fehlende Plätze sind die Folgen. (Tages-Anzeiger, 07.03.2023)

aura Marti ist gerne Sozialarbeiterin, doch sie kann einfach nicht mehr. Die 35-Jährige arbeitet seit acht Jahren in einer Notunterkunft für Kinder und Jugendliche. «Die Arbeit, die wir hier machen, ist wahnsinnig wichtig, doch die Situation wird immer frustrierender», sagt sie. Marti heisst eigentlich anders, doch ihren richtigen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. In ihrer Branche äussert man sich selten in der Öffentlichkeit.

Diese bekommt meist nicht viel mit von der Sozialen Arbeit – solange sie erfolgreich ist. Zu Marti kommen Kinder und Jugendliche, die es zu Hause nicht mehr aushalten, weil sie zum Beispiel geschlagen werden. Marti hört sie an, betreut sie, klärt die rechtliche Situation ab und versucht, einen sicheren Ort für sie zu finden. Andere Sozialarbeiterinnen und -pädagogen betreuen Kinder in Heimen, helfen Arbeitslosen und klären Asylsuchende über ihre Rechte auf. Nun brauchen sie vielleicht bald selber eine Krisenintervention.

«Die Zitrone ist ausgepresst»

Egal ob Heim, Asylorganisation oder Sozialdienste, überall wird auf Anfrage bestätigt, worüber Mitarbeitende schon lange klagen: Das Personal ist knapp oder nicht vorhanden. Das bedeutet längere Wartezeiten für Betreuungsgespräche, oberflächlichere Beratung oder im Fall der Kinder- und Jugendheime gar gestrichene Plätze. 

Drastisch ist die Situation besonders bei den Heimen und im Asylbereich. Bei der Asylorganisation Zürich (AOZ), die unter anderem für die Unterbringung und die Ausrichtung der Sozialhilfe für Geflüchtete in der Stadt Zürich zuständig ist, sind im Moment rund 50 Stellen offen. Es waren aber auch schon über 100. Das entsprach rund fünf Prozent aller Stellen. Andreas Hurter, Geschäftsführer der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime (ZKJ), sagt: «Wäre der Arbeitsmarkt der Sozialarbeitenden eine Zitrone, wäre sie im stationären Bereich komplett ausgepresst.»

Die Gründe für das Fehlen der Sozialarbeitenden sind vielschichtig und variieren je nach Tätigkeit. Dennoch nennen die angefragten Personen immer wieder dieselben kritischen Faktoren. Darunter ist der demografische Wandel. Viele Sozialarbeitende der Babyboomer-Generation gehen zurzeit in Pension.

«Diese Lücke zu füllen, ist nicht einfach», sagt Daniela Wirz von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Wirz vernetzt das Departement Soziale Arbeit der Hochschule mit staatlichen Stellen und sozialen Institutionen. «Auch der generelle Trend zur Teilzeitarbeit ist spürbar.» Berufsspezifisch sind dagegen diese beiden Gründe: die erhöhte Nachfrage nach Sozialarbeitenden und die hohe Fluktuation in gewissen Bereichen.

Mehr Familiennetze reissen

Mehr Fachpersonen werden besonders im Asylbereich gebraucht. Im vergangenen Jahr sind so viele Menschen in die Schweiz geflohen wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, vor allem aus der Ukraine. «Wir haben im letzten Jahr über 600 neue Stellen geschaffen und mehrere Dutzend ausgebildete Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen neu angestellt», sagt AOZ-Direktor Stefan Roschi. 

«Der Lockdown brachte viele ohnehin schon labile Familiennetze zum Wanken.»

Andreas Hurter, Geschäftsführer Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime (ZKJ)

Auch Heimplätze sind immer gefragter, sagt Hurter von der ZKJ. Die Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime betreut an über 20 Standorten rund 600 Kinder und Jugendliche, von denen die Mehrheit in Heimen lebt. Seit Corona sei der Bedarf an Wohn- und Betreuungsplätzen merklich gestiegen. «Der Lockdown brachte viele ohnehin schon labile Familiennetze zum Wanken», sagt Hurter.

Die Stiftung müsste also ihr Angebot ausbauen. Doch aktuell kann sie nicht einmal mehr alle vorhandenen Plätze vergeben. «Uns fehlen schlicht geeignete und kompetente Fachkräfte, insbesondere im stationären Bereich», sagt Hurter. Auf der Website der ZKJ sind aktuell rund 40 Stellen im sozialpädagogischen und pädagogischen Bereich ausgeschrieben. Manche davon sind schon seit Monaten unbesetzt. «Es bewerben sich kaum Leute», sagt Hurter.

Unbeliebter Schichtbetrieb

Dass sich niemand bewirbt und Personal kündigt, liegt vor allem an den Arbeitsbedingungen. Stationäre Einrichtungen verlangen Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit. Soziale Institutionen, in denen zu Bürozeiten gearbeitet werden kann – beim Sozialamt oder in der Schule zum Beispiel – finden dagegen noch genügend Personal. Die Sozialdienste der Stadt Winterthur schätzen die Lage zum Beispiel als «angespannt, aber nicht dramatisch ein». Ähnlich klingt es bei den Zürcher Gemeinschaftszentren.

«Für den gleichen Lohn gibt es auch Stellen, die besser mit dem Sozial- und Familienleben vereinbar sind.»

Thomas Wild, Leiter Schulinternat Heimgarten in Bülach

Dieses Unterschieds ist sich Thomas Wild bewusst. Er leitet das Schulinternat Heimgarten in Bülach. «Unser Heim ist ein interessanter, aber auch anspruchsvoller Arbeitsort. Für den gleichen Lohn gibt es auch Stellen, die besser mit dem Sozial- und Familienleben vereinbar sind», sagt er.

Wohnplätze bleiben leer wegen Personalmangel

Das Heimgarten hat Platz für 40 Kinder und Jugendliche. Auf vier Bewohnende kommt jeweils eine Sozialpädagogin, die für die Förderung und die Betreuung zuständig ist. Sie regelt das Zusammenleben der Gruppe, unterstützt die Schule bei Schwierigkeiten und steht im Kontakt zu den Behörden und Eltern. Dabei gebe es sehr schöne und erfüllende Tage. Aber halt auch solche, an denen sie einen depressiven Teenager überreden müsse, überhaupt aus dem Bett zu kommen, während gleichzeitig die anderen Kinder aufeinander losgingen, sagt Wild. 

«Meist ist die Belastung hoch, aber machbar. Bleiben Stellen jedoch längere Zeit unterbesetzt, steigt diese markant für die verbleibenden Personen», sagt der Institutionsleiter. Er habe sich nun gezwungen gesehen, acht Wohnplätze vorübergehend unbesetzt zu halten, um seine Mitarbeitenden vor Überlastung zu schützen. Dies, nachdem es in den letzten anderthalb Jahren zunehmend schwierig geworden war, die freien Stellen angemessen zu besetzen. 

Unter dem generellen Personalmangel leiden vor allem jene, die auf die Sozialarbeitenden angewiesen sind. Zum Beispiel Jugendliche, die dringend einen Heimplatz benötigen, oder Asylsuchende, die Hilfe bei persönlichen Problemen brauchen. So haben etwa die geflohenen Ukrainerinnen zwar Zugang zu allen benötigten Gütern, finanziellen Hilfen, Sprach- und Integrationskursen, wie Stefan Roschi von der AOZ sagt. «Doch bei der individuellen Unterstützung zur Wohnungs- und Arbeitssuche oder bei der persönlichen Hilfe mussten teilweise Abstriche gemacht werden.»

Frust bei den Angestellten

«Das hat nichts mehr mit Sozialer Arbeit zu tun», schreibt das «Forum für kritische Soziale Arbeit» (Kriso) auf Anfrage. Das Forum besteht aus Sozialarbeitenden, die sich kritisch mit ihrer Branche auseinandersetzen. Gerade Asylsuchende bräuchten besondere Unterstützung durch ausgebildetes Personal. Nur so werde man ihrer Situation gerecht, welche oftmals in Verbindung mit Traumas stehe, schreibt das Kriso. Um trotz Personalmangel ihren eigenen professionellen Ansprüchen an eine gute Betreuung gerecht zu werden, würden viele Sozialarbeitende «unendlich viele Überstunden» ansammeln. 

«Die Kinder haben oft schon ein tiefes Selbstvertrauen. Erhalten sie sieben Absagen von Wohngruppen, bekommen sie noch mehr das Gefühl, dass niemand sie haben will.» 

Laura Marti, Sozialarbeiterin

Den Frust, den eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht zu werden, kennt auch Sozialarbeiterin Laura Marti. Eine ihrer Aufgaben ist es, für die Kinder und Jugendlichen einen langfristigen Wohnplatz zu suchen. Weil die Heimplätze aufgrund des Personalmangels überall knapp sind, gelingt ihr das nicht mehr immer. «Die Kinder bei uns haben oft schon ein tiefes Selbstvertrauen. Erhalten sie sieben Absagen von Wohngruppen, bekommen sie noch mehr das Gefühl, dass niemand sie haben will.» 

Dazu kommt die Zeitabrechnung, die viele Sozialarbeitende als ungerecht empfinden. Wenn Marti Bereitschaftsdienst über Nacht hat, muss sie vor Ort sein. Dafür erhält sie eine Pauschale von 85 Franken. Angerechnet an ihr Pensum wird die Zeit, die sie effektiv im Einsatz ist. «Der Rest der Zeit ist aber keine Freizeit, über die ich frei verfügen kann», sagt sie. Aufgrund der Nachtschichten sei in ihrem Betrieb auch kaum Vollzeitarbeit möglich, da sonst die gesetzlichen Ruhezeiten nicht eingehalten werden könnten. Auch Marti arbeitet nur 70 Prozent. 

Keine einfachen Lösungen

Die Sozialinstitutionen haben also nicht nur das Problem, dass sie immer mehr leisten sollen und kein weiteres Personal finden. Ihnen springt auch immer wieder das bereits vorhandene Personal ab, für das die Belastung mit jeder unbesetzten Stelle steigt. Dieser Abwärtsspirale versuchen die Institutionen nun zu entkommen. Einfach ist das nicht.

«Die Nachfrage nach Sozialer Arbeit kann ein Akteur allein nicht beeinflussen», sagt Heimleiter Wild. Umso wichtiger sei es, die Mitarbeitenden in den Betrieben zu halten. Dies bestätigen alle angefragten Institutionen. Sie würden die Schichtpläne so gut wie möglich anpassen und versuchen, flexiblere Arbeitszeiten zu ermöglichen. Wo es geht, wolle man die Sozialarbeitenden von administrativen Arbeiten entlasten. Auch müsse man die neuen Angestellten möglichst gut einarbeiten, obwohl das Ressourcen bindet.

Junge Berufseinsteiger

Den letzten Punkt betont auch Daniela Wirz von der ZHAW. Die Begleitung der neuen Sozialarbeitenden sei zentral, weil diese heute oft sehr jung in den Beruf einstiegen. «Zur Sozialen Arbeit fanden früher viele erst auf dem zweiten Bildungsweg», sagt Wirz. «Sie hatten nicht immer ein Studium, dafür Lebenserfahrung.» Junge Sozialarbeitende hätten direkt nach der Hochschule zwar viel theoretisches Wissen, «doch wenn man mit 23 Jahren psychisch belastete 17-Jährige begleitet, kann das sehr herausfordernd sein. Es braucht die Möglichkeit, sich mit erfahrenen Kolleginnen auszutauschen.»

«Wir brauchen mehr Ressourcen, um unseren Auftrag erfüllen zu können.» 

Andreas Hurter, Geschäftsführer Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime (ZKJ)

Damit sich in der Sozialen Arbeit grundlegend etwas ändere, seien aber die Gesellschaft und die politisch Verantwortlichen gefordert, sagt Andreas Hurter von den Zürcher Kinder- und Jugendheimen: «Wir brauchen mehr Ressourcen, um unseren Auftrag erfüllen zu können.» 

Bei der Bildungsdirektion weiss man um den Fachkräftemangel, wie sie auf Anfrage schreibt. Sie ist sowohl für die ZHAW als auch die Kinder- und Jugendheime zuständig. Der Personalnot begegne man auf «vielfältige Weise». So würden unter anderem sozialarbeiterische und psychologische Notfallteams aufgebaut, die Kinder und Jugendliche frühzeitig unterstützten. Auch sollen Studierende der Sozialen Arbeit bereits während des Studiums in den Institutionen arbeiten. Zusätzlich soll die ZHAW in Zukunft 288 statt 240 Studienplätze pro Jahr im Bachelor in der Sozialen Arbeit anbieten.   

Für die Sozialarbeiterin Laura Marti kommt das alles zu spät. Sie hat gekündigt, auch wenn es sich ein bisschen anfühle, als würde sie ihre Kolleginnen und die betreuten Jugendlichen im Stich lassen. «Doch ich brauche jetzt einfach mal eine Pause.»

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