«Einen Zahlungsausfall der USA gab es noch nie. Es ist deshalb unvorhersehbar, was genau passieren würde»

Die wichtigsten Antworten zum billionenschweren Polittheater

Die USA müssen ihre Schuldenlimite erhöhen, sonst droht eine weltweite Finanzkrise. Die Republikaner stellen sich aber quer. Doch worum geht es beim Streit überhaupt? (Tages-Anzeiger, 23.05.2023)

Die USA sind gerade mal wieder daran, sich selbst ein Bein zu stellen. Dabei besteht die Gefahr, dass sie im Fallen auch gleich die gesamte Weltwirtschaft mit sich reissen. Seit Wochen verhandeln Demokraten und Republikaner um die Anhebung der Schuldengrenze. Nun wurden die ins Stocken geratenen Gespräche zur Chefsache erklärt. Präsident Joe Biden traf sich persönlich mit Kevin McCarthy, dem republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses. Noch gibt es aber keine Einigung. 

Was wollen die beiden Parteien? Und was hat eine 1-Billion-Dollar-Münze aus Platin damit zu tun? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick. 

Was ist die US-Schuldengrenze eigentlich?

Wie praktisch alle Länder haben auch die USA Schulden. Derzeit belaufen sich diese auf 31,46 Billionen US-Dollar. Der Staat schuldet dieses Geld zum grössten Teil der amerikanischen Zentralbank, Pensionskassen und privaten Investoren. Anleger aus der Schweiz haben den USA beispielsweise 273 Milliarden Dollar geliehen. Seit dem Ersten Weltkrieg muss der US-Kongress nicht mehr jedes einzelne Mal zustimmen, wenn sich der Staat Geld leiht. Stattdessen legt er eine Obergrenze für die Schulden fest.

Warum muss die Schuldenobergrenze überhaupt erhöht werden?

Die Schulden der USA wachsen seit Jahrzehnten stetig an, weil die Regierung mehr Geld ausgibt, als sie einnimmt. Ausgaben fallen zum Beispiel für Sozial- und Militärausgaben an. Die Einnahmen bestehen in erster Linie aus Steuern. Weil die Schulden immer höher werden, wird auch die Schuldenobergrenze immer weiter angehoben. Seit 1960 geschah dies 78-mal. In 49 Fällen war dies unter einem republikanischen, in 29 unter einem demokratischen Präsidenten. Zuletzt erhöhte der Kongress die Limite 2021 um 2,5 Billionen Dollar auf 31,38 Billionen. Diese Grenze wurde am 19. Januar erreicht. Das Finanzministerium ergriff daraufhin buchhalterisch «ausserordentliche Massnahmen», dank deren die Regierung seither die dringendsten Ausgaben bestreiten kann. Die Möglichkeiten dieser Massnahmen sind jedoch beschränkt.

Wann werden die USA das aktuelle Limit erreichen?

Bereits am 1. Juni könnte es laut US-Finanzministerin Janet Yellen so weit sein, dass die USA ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen können, weil sie die Schuldengrenze definitiv überschreiten. Ein genaues Datum ist jedoch schwierig vorauszusagen, da dieses unter anderem davon abhängt, wann wie viele Steuern eingezahlt werden.

Was passiert, wenn die USA keine weiteren Schulden mehr aufnehmen können?

Dann erhielten weder Kriegsveteranen ihre Unterstützung noch grosse Anleger ihr geliehenes Geld zurück. Die Vereinigten Staaten würden zahlungsunfähig. Dies könnte unabsehbare Folgen für die weltweite Wirtschaft haben. Amerikanische Staatsanleihen gelten als praktisch sicherste Art, Geld anzulegen. Bricht diese Sicherheit weg, hätte das «unabsehbare Folgen für das Finanzsystem und die Wirtschaft», wie Alexander Koch, Ökonom bei der Raiffeisenbank schreibt. Könnten die USA mehrere Wochen lang ihre Schulden nicht begleichen, könnte die daraus entstehende Krise dort fast 8 Millionen Jobs kosten, rechnet der Chefökonom von Moody’s Analytics, Mark Zandi, in einem Bericht vor. 

Was würde das für die Schweiz bedeuten?

Die direkten Folgen für die Schweiz wären bei einem nur kurzfristigen Zahlungsausfall laut Koch von der Raiffeisenbank wohl überschaubar. Länger andauernde Zahlungsprobleme und ein «riesen Chaos an den Märkten» würden aber auch die Schweizer Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen. Besonders die Exportindustrie wäre in Gefahr, sagt Koch auf Anfrage. Denn geht es der US-Wirtschaft schlecht, importiert diese weniger Schweizer Produkte. Gilt der Dollar als unsicher, könnte das den Schweizer Franken stark aufwerten und Exporte noch weiter erschweren. «Aber einen Zahlungsausfall der USA gab es noch nie. Es ist deshalb unvorhersehbar, was genau passieren würde», so Koch.

Kann Biden nicht einfach sofort aufhören, noch weitere Schulden zu machen?

Nein, so einfach ist das nicht. Denn das Geld wurde bereits ausgegeben beziehungsweise versprochen. Dies geschah teils sogar noch unter Bidens Vorgänger Donald Trump. Die Anhebung der Schuldengrenze braucht es, um diesen Verpflichtungen nachzukommen. Diese bestehen auch dann, wenn Biden ab heute keinen Cent mehr ausgeben würde. 

Warum gibt es dann überhaupt Streit um die Anhebung der Schuldengrenze?

Lange galt die Anhebung der Schuldengrenze als Pro-forma-Angelegenheit. In den letzten Jahren wurde diese aber vermehrt als Möglichkeit gesehen, politische Forderungen durchzubringen. 2011 stimmte das republikanische Repräsentantenhaus erst am allerletzten Tag vor dem drohenden Zahlungsausfall der Anhebung zu. Der damalige Präsident Barack Obama musste weitgehende politische Zugeständnisse machen. 

Was wollen die Republikaner dieses Mal?

Um die Schuldenobergrenze anheben zu können, müssen sowohl der Senat als auch das Repräsentantenhaus zustimmen. In letzterem haben die Republikaner eine knappe Mehrheit. Für ihre Zustimmung fordern sie laut US-Medien starke Budgetkürzungen von Biden, insbesondere im Sozialbereich, darunter bei Krankenversicherungen und Ernährungsprogrammen. Auch bei der Steuerbehörde soll gespart werden. Die Militärausgaben sollen nach dem Willen der Republikaner jedoch nicht eingeschränkt werden. 

Was wollen die Demokraten?

Die Demokraten weigerten sich lange, auf Verhandlungen einzugehen. Sie forderten, dass die Schuldengrenze diskussionslos angehoben wird, wie dies lange üblich war. Unterdessen sind sie bereit, Abstriche bei geplanten Mehrausgaben zu machen, darunter auch beim Militär. Die Forderungen der Republikaner bezeichnet die Pressesprecherin des Weissen Hauses, Karine Jean-Pierre, jedoch als «extrem». Sie schlägt stattdessen vor, grosse Pharmaunternehmen stärker zu besteuern und Steuerschlupflöcher zu schliessen. Höhere Steuern lägen für die Republikaner jedoch «nicht auf dem Verhandlungstisch», sagt Kevin McCarthy, der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses. 

Bis jetzt haben sich die beiden Parteien immer gefunden. Warum sollte es diesmal anders sein?

Beide Seiten sind sich bewusst, was auf dem Spiel steht, und an einem Kollaps der Weltwirtschaft hat niemand ein Interesse. Dementsprechend zuversichtlich starteten die Verhandlungen. Am Freitagabend gerieten die Verhandlungen jedoch ins Stocken. Präsident Biden verkürzte extra seine Asienreise, um sich persönlich mit McCarthy zu treffen. Sowohl Biden als auch McCarthy stehen unter grossem Druck aus der eigenen Partei. Der rechte Flügel der Republikaner hat bereits gezeigt, wie weit er bereit ist zu gehen, um seine Interessen durchzudrücken. Die Republikaner wählten McCarthy erst im 15. Wahlgang zum Speaker und erst nachdem er ihnen weitreichende Zugeständnisse gemacht hatte. Umgekehrt drohen bereits erste Demokraten, gegen die Anhebung der Schuldengrenze zu stimmen, sollte Biden den Republikanern zu weit entgegenkommen.

Hat Präsident Biden noch andere Optionen, sollte kein Kompromiss gefunden werden?

Es machen verschiedene Vorschläge die Runde, wie Biden die Zustimmung der Republikaner umgehen könnte. So fordern über 70 Kongressangehörige der Demokraten, darunter Bernie Sanders und Elisabeth Warren, dass Biden die Schuldengrenze für verfassungswidrig erkläre. Eine andere Möglichkeit wäre, dass das Finanzministerium eine «1-Billion-Dollar»-Münze aus Platin pressen lässt.

Juristisch könnte beides möglich sein, doch würde es letzten Endes wohl auf den Entscheid des Obersten Gerichts ankommen, in dem zurzeit republikanische Richter dominieren. Ausserdem würde Biden damit komplett neue Wege gehen und ein grosses politisches Risiko eingehen, da dann die gesamte Verantwortung bei ihm läge.

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